Evrim Kavcar und Yasemin Özcan. Istanbul-Berlin Stipendiatinnen 2018/19

30. März–5. April 2019

Ausstellung
Einzelveranstaltung
Stipendium

Ort(e):
nGbK, Oranienstraße 25, 10999 Berlin

Künstler_innen

Evrim Kavcar, Yasemin Özcan

Seit 2018 werden jährlich zwei Stipendien an in Istanbul lebende Künstler_innen vergeben. Mit dem Stipendium sollen die Beziehungen zwischen den Partnerstädten Berlin und Istanbul und die Verbindungen zur türkischen Kunstszene weiter gestärkt werden.
Die Präsentation im nGbK-Ausstellungsraum ermöglicht einen Einblick in die künstlerisch-forschende Arbeit der Stipendiatinnen Evrim Kavcar und Yasemin Özcan.

Evrim Kavcar
Istanbul-Berlin Stipendiatin (Juli-Dezember 2018)

Der Schwerpunkt von Evrim Kavcars künstlerischem Schaffen liegt auf der Erforschung von Leerstellen als eine Möglichkeit, Zugang zum Gedächtnis von gewaltsam verloren gegangenen Objekten zu erhalten. Die von Kavcar gezeigten Werke sind im Rahmen ihres Aufenthaltes in Berlin entstanden und befassen sich mit der Beziehung zwischen einerseits individuellen und persönlichen, und andererseits sozialen und kollektiven Erinnerungen. Die Künstlerin arbeitet situationsspezifisch und materialsensibel mit Performances, Skulpturen und Zeichnungen an der Schnittstelle zwischen Politik und Poetik.

Während ihres Berlin-Aufenthalts hat sich die Künstlerin Evrim Kavcar mit den unterschiedlichen Bedeutungen, Konnotationen und Übersetzungen eines ganz bestimmten Materials beschäftigt: Erde.
Ausgehend von einer frei assoziierten Karte zu Begriffen, die dem Material innewohnen, wie Boden als stiller Zeuge*, Heimat, Blut und Boden, entnahm Kavcar in psychogeographischer Manier Erde aus verschiedenen Berliner Parks. Für ihr weiteres Vorgehen wählte sie den rein körperlichen Kontakt mit der sandigen Berliner Erde: “Der physische Kontakt mit dem Boden, auf dem wir stehen, erinnert uns an unsere Beziehung zu einer tieferen, von Zyklen von Leben und Tod geprägten Zeit. Durch ihn lässt sich eine Art Verbundenheit herzustellen, die eine Veränderung in uns selbst ermöglicht. Unter unserer Haut, sowie unter der Erde. Das Erdreich - der eigentliche Boden - verbindet die Menschen und nicht fliegende Lebensformen.”

Inspiriert von der japanischen Tradition des hikaru dorodango (glänzende Bälle aus Schlamm und Dreck), rollte Kavcar zunächst mit den Händen den losen Sand zu Kugeln. Dabei saß sie jeden Tag in verschiedenen Parks auf dem nackten Boden. Angetrieben von dem Wunsch, sich nach einer Zeit des kontinuierlichen Verlustes von Boden - durch die Auswirkungen des Klimas in jeglicher Hinsicht - zu erden, widmete sich Kavcar dieser meditativen und langwierigen Tätigkeit. Die Künstlerin rollte den Schlamm in Stille und Kontemplation und begann parallel dazu ein Archiv kugelförmiger Objekte aus der Kunstgeschichte und dem täglichen Leben anzulegen, um ihren Schlammkugeln einen möglichen Kontext zu geben. Die gefilterten und sehr feinen Sandbodenpartikel, die unsere Haut bedecken, unsere Nasenlöcher füllen oder unsere Augen reizen, dienen Kavcar als Metapher für die täglichen Zweifel und Ängste, die auf unsicheren politisch geprägten Böden entstehen, und denen man nur durch einen Zustand der Selbstfürsorge begegnen kann.

Das Video BODEN (2019) stellt einen Interpretationsversuch dieser sechsmonatigen Phase multisensorischer und intertextueller Forschungen dar. Der Charakter des sandigen Berliner Bodens, die Anwesenheit von Trümmern, die Art und Weise, wie er durch Berührung und Zeit verwandelt wird, und sein Einfluss auf die ökologische Vielfalt der Stadt liefern Metaphern nicht nur für Phasen des Erwachens nach traumatischen Ereignissen, sondern auch für andere Formen der Verbindung mit dem Boden unter unseren Füßen, auf dem wir stehen, fallen oder von dem aus wir wegfliegen.

*Dieser Begriff hat zwei Seiten:
1-“Yerin kulağı vardır” ist eine türkische Redewendung, wörtlich übersetzt: Der Boden hat Ohren, und im übertragenen Sinne: Sei vorsichtig, was du unter freiem Himmel sagst, sie könnten dich hören.
2- Die Vorstellung von Boden/Erde als stillen Zeugen setzt ein zyklisches Zeitdenken voraus, im Gegensatz zur linearen und vergesslichen Version der zeitgenössischen Erfahrung von Zeit. Das Konzept des stillen Zeugen erstreckt sich über den gesamten Planeten sowie die verschiedenen Zeitalter in ihrer geschichtlichen Entwicklung.

Yasemin Özcan
Istanbul-Berlin Stipendiatin (Januar-Juni 2019)

Yasemin Özcan beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit Identität, Kulturpolitik, Gender, Esoterik und Psychologie. Dabei verwendet sie verschiedene Medien, darunter Fotografie, Video, Sound, Publikationen und Keramik. Seit 1990 verfolgt Özcan einen autoethnografischen Ansatz, indem sie persönliche Erfahrungen analysiert, um kulturelle Gegebenheiten verständlich zu machen.

2011 stieß Yasemin Özcan auf einen Samen, der während ihrer Abwesenheit in der Spüle ihres Hauses gekeimt war. Instinktiv fotografierte sie diese überraschende Szene. Erst für die Vorbereitung der Ausstellung Saadet Cikmazi / Dead-End of Bliss (artSümer, 2017) erinnerte sie sich an dieses Bild.

Als sie das Motiv der sehr niedrig aufgelösten Fotografie mit der Sensibilität einer bildenden Künstlerin erneut aufnehmen wollte, stellte sie fest, dass der Samen in ihrer Küche, in die nur wenige Stunden am Tag Sonnenlicht schien, zur Quelle des natürlichen Lichts hin gewachsen war. Dabei kam ihr der Satz eines Lehrers aus einem Workshop über das Gärtnern in den Sinn: “Übe keinen Stress auf die gekeimten Samen aus.” Die Fotografie Hope or Light Stress (2011) verkörpert die Anliegen aus der Welt einer Frau, gepaart mit dem Gefühl der Hoffnung.

WHY? (2018) stellt den ersten Teil aus Özcans Serie von Keramiken mit dem Titel Tereddüt [Zweifel] dar. In dieser Serie bezieht sich die Künstlerin auf ihr Buch Marmalade Skies. Darin erforscht sie ihre Beziehung zu Sprache und Text. Das im traditionellen Schrühbrand-Verfahren gefertigte Tongefäß WHY? verwandelt sich hier in einen Bedeutungsträger: einerseits für Geschichtliches und anderseits für heutige Fragen.

Termine:

Sonntag, 31. März 2019
18 Uhr
Führung durch die Ausstellung mit Evrim Kavcar

19 Uhr
Lecture Performance (TUR m UT:EN)
Yasemin Özcan »The Heart of the Flâneuse (2017)«

Für die Ausstellung »Flâneuses« (2017) produzierte Yasemin Özcan das Künstlerbuch »Marmalade Skies«. Die darin enthaltenen Kurzgeschichten basieren auf verschiedenen Geschichten, Orten und Figuren. Sie laden dazu ein, über die Präsenz von Frauen im öffentlichen Raum nachzudenken. In ihrer Lecture Performance »The Heart of the Flâneuse« bezieht sich Özcan auf dieses Buch und lässt die Herzschläge der Flâneusen, die beschwingt unter ›marmalade skies‹ schlendern, hörbar werden.
Die Ausstellung »Flâneuses« im Französischen Kulturzentrum in Istanbul in Zusammenarbeit mit İKSV (Istanbul Foundation for Culture and Arts) wurde von Bige Örer kuratiert.

Das Stipendium der Senatsverwaltung für Kultur und Europa wird im Rahmen einer Kooperation zwischen dem Kunstverein neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK), dem ZK/U – Zentrum für Kunst und Urbanistik in Berlin und dem DEPO in Istanbul ermöglicht.

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