Arne Schmitt. Zum Gedanken der aktiven Minderheit

30. April–14. August 2021

Ausstellung
Veranstaltungsreihe

Ort(e):
station urbaner kulturen, Auerbacher Ring 41, 12619 Berlin

Künstler_innen

Arne Schmitt

Arbeitsgruppe station urbaner kulturen

Juan Camilo Alfonso Angulo, Jochen Becker, Fabian Bovens, Eva Hertzsch, Margarete Kiss, Constanze Musterer, Adam Page

Arne Schmitt. Fotografie, Video, Text
Der mit Fotografie und Video arbeitende Künstler Arne Schmitt ist vornehmlich in Westeuropa unterwegs und untersucht die »Grauen Architekturen« (Benedikt Boucsein). Die häufig schwarz-weißen Aufnahmen sind aufgeklärte Statements zu einer Welt aus Konsumzonen, Verwaltungseinheiten und Bildungslandschaften. Sie scheinen auslaufende Modelle einer Nachkriegsmoderne zu sein, gekoppelt an die autogerechte Stadt, und leben doch immer neu auf. Dabei zelebriert Schmitt nicht die Baukörper und städtischen Formationen, sondern schält in ihrer ruppigen Spröde heraus, was die Versorger-Moderne der kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten hinterlassen hat.

Arne Schmitts Erinnerungen, die bis in die Gegenwart reichen, zeigen einen gebauten und in den Videos gelebten Gestaltungswillen nach, eine bessere Welt zu erschaffen. Das partielle Scheitern ist darin eingeschrieben, doch die Hoffnungen nicht ganz abgeschrieben. Er streunt als belesener und faszinierter Betrachter durch eine gebaute Umwelt voller Ideen und Absichten, die er mit ihren Menschen, Autos, Vegetationen und Beschilderungen kenntlich fixiert. Das Medium Video hilft, sich auf die dabei eintretenden Ernüchterungen einen Reim zu machen. Seine urbane Archäologie der jüngsten, Stein gewordenen Vergangenheit gibt die Stadtgesellschaft nicht auf. Doch: »Der Verkauf geht weiter.«

Zum Gedanken der aktiven Minderheit

»Man ist sich dessen bewußt, daß hier, alles in allem, eine Minderheit am Werk ist. Doch das ist immer so gewesen. Nur, diese Minderheit ist effektiv, kann sich artikulieren, es sind Eiferer, und die Ideen, die sie der Mehrheit kundtun, sind keine Luftgespinste und finden Gehör.« Cees Nooteboom zum Mai 68 in Paris

Der offene Konflikt, den Student_innen und Staat im steinernen Zentrum der europäischen Stadt ausfochten und der zeitweise weite Teile der Bevölkerung aktivierte, hatte seinen Anfang in der Pariser Peripherie genommen: auf den modernen Campusanlagen von Nanterre. Genauso in Bordeaux: die ersten studentischen Proteste spielten sich in den Wohnheimen der weitläufigen suburbanen Universitätszone ab, die seit den 1950er Jahren umgesetzt wurde. Nur die Geisteswissenschaften waren 1968 noch im Zentrum verblieben und wurden zum Hauptquartier der Student_innenbewegung. Nach Ende der Unruhen forderte der zuständige Präfekt die schnellstmögliche Verlegung der Fakultät an den Stadtrand.

Die Bezüge sind reich, die sich hier zwischen Zentralismus und Marginalisierung, zwischen Stadtplanung und technokratischer Gesellschaftssteuerung auftun. Aktive Minderheiten agieren nicht selten vom Rand aus – doch der Weg ins Zentrum ist unerlässlich, wenn sich nachhaltige Veränderung einstellen soll. Dasselbe gilt auch für jenes in jüngster Zeit umkämpfte Terrain, das sich zwischen Sprache, Denken und Handeln eröffnet.

Student_innen in Berlin-Hellersdorf äußerten Kritik an einem Gedicht, das von der Leitung ihrer Hochschule an der Fassade angebracht worden war. Sie forderten Beteiligung, gingen demokratisch durch alle Gremien der Hochschulselbstverwaltung – und erreichten so Veränderung. Eine Mehrheit aus Politik und Gesellschaft, vor allem durch ein Mehr an Macht gekennzeichnet, empörte sich darüber dermaßen, dass sie autoritäres Einschreiten forderte – nicht selten Bezug nehmend auf ihre eigenen 68er-Werte. Der Vorwurf: Die Student_innen sprächen lediglich für eine Minderheit.

Was heißt es für diese Debatte, dass diese empörte Mehrheit die betreffende Fassade, diesen Teil der Stadt kaum je aus der Nähe gesehen hat? Und welchen Blick wirft die hochschulexterne Nachbarschaft auf die Fassade - als die wohl größte Gruppe von Betrachter_innen?

Arne Schmitt

Termine:

Freitag, 30. April 2021, 19:00 (de)
Online-Gespräch ›Vermittlungen‹ Arne Schmitt mit Volker Pantenburg

Volker Pantenburg lehrt als Professor Filmgeschichte an der FU Berlin und ist u.a. als Mitbegründer des Harun Farocki Instituts der kritischen Praxis von Godard bis Farocki verpflichtet. Im Gespräch mit Arne Schmitt sollen Fragen des dokumentarischen, des künstlerischen und des Essay-Films behandelt werden.

Freitag, 18. Juni 2021, 19:00 (de)
Online-Gespräch und Screening ›Re/Education‹ mit Simone Hain, Andrea Plöger, Arne Schmitt, Fari Shams

Simone Hain (»Die Salons der Sozialisten«) und Andrea Plöger (Alice Salomon Hochschule Hellersdorf) diskutieren zur Bildungspolitik in Ost und West. Sie werden auf die entnazifizierenden und emanzipativen Formen praktischer Reeducation Bezug nehmen sowie den Streit um ein Gedicht von Eugen Gomringer an der Fassade der ASH mit Blick auf die Rolle kritischer Praxis und (Selbst-) Bildung thematisieren.
Das Video »die insel« von Fari Shams & Arne Schmitt zu Erwachsenenbildung und Nachkriegsmoderne in Marl wird vom 16. - 21. Juni 2021 online gestellt und wird vor Ort gezeigt.

Fari Shams & Arne Schmitt
»die insel« (70 min.)
Deutsch mit englischen Untertiteln
2020

»die insel« ist 1955 als Heim des Bildungswerkes der Stadt Marl errichtet worden und war der erste Neubau für die Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik. Der Vorbote des kommenden modernen Stadtzentrums einer aufstrebenden Industriestadt im nördlichen Ruhrgebiet umfasste Volkshochschule, Lesesaal und Stadtbibliothek.
Hier sollte mit den Worten des langjährigen Direktors und Motors Dr. Bert Donnepp ein »kulturelles Stadtbewusstsein« entstehen: eine »Bildungsdemokratie am runden Tisch«, wo es als »Übungsplatz der Demokratie« keine hierarchische Belehrung geben sollte, sondern Hilfe zur Selbsthilfe.
Im Film »die insel« montieren Fari Shams und Arne Schmitt eigene Filmbilder aus dem heutigen Marl mit Archivmaterial aus Fernsehen, Rundfunk und den an »die insel« entstandenen Marler Jahresschauen.
http://farishams.com/home/die-insel-2019

Samstag, 26. Juni 2021, 16:00 (de)
Online-Gespräch ›Bildungseinrichtungen‹ mit Sabine Bitter/Helmut Weber/Klaus Ronneberger, Eva Hertzsch/Adam Page, Tom Holert

Die Künstler_innen Bitter/Weber (Wien/Vancouver) haben mit dem Stadtforscher Klaus Ronneberger (Frankfurt/M.) die Verlagerung des Frankfurter Universitätscampus in das ehemalige IG-Farben-Haus begleitet. Das einst im antifaschistischen Geist entwickelte Ensemble wurde in Teilen abgerissen. Die sich am »Bildungsmarkt« behauptende Universität zog in einen Baukomplex autoritären Stils.

Tom Holert kuratiert die Ausstellung »Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren« am Haus der Kulturen der Welt und lässt die weltweite Euphorie der »Bildungsoffensive« jener Jahre kritisch Revue passieren. Im Rahmen von »Bildungsschock« haben Hertzsch/Page (Mitbegründer_innen der station urbaner kulturen) mit Schüler_innen der Walter-Gropius-Schule in der Großsiedlung Gropiusstadt eine künstlerische Arbeit produziert.

Finanziert von