Das Jahr 1990 freilegen oder: Aufführung eines Buches

Anne König und Jan Wenzel

15. September–30. November 2019

Ausstellung
Veranstaltungsreihe

Ort(e):
station urbaner kulturen, Auerbacher Ring 41, 12619 Berlin

Künstler_innen

Anne König, Jan Wenzel

Teilnehmer_innen

Madeleine Bernstorff, Manuela Bojadžijev, Frigga Haug, Wolfgang Fritz Haug, Anne König, Elske Rosenfeld, Jan Wenzel

Arbeitsgruppe station urbaner kulturen

Jochen Becker, Fabian Bovens, Eva Hertzsch, Margarete Kiss, Constanze Musterer, Adam Page

Die Installation beinhaltet Beiträge von Jan Caspers, Christiane Eisler/ Silke Geister, Gerhard Gäbler, Anselm Graubner, Martin Jehnichen, Harald Kirschner, Alexander Kluge, Andreas Rost und Wolfgang Schwärzler.

Vergleicht man die Jahre 1989 und 1990, zeigt sich, dass sie in der kollektiven Erinnerung höchst unterschiedlich präsent sind. Die meisten Menschen können sich das Jahr 1989 rasch ins Gedächtnis rufen. Auch mit dem Abstand von knapp dreißig Jahren fällt es leicht, die Abfolge der Ereignisse dieses Herbstes zu erzählen – alles verdichtete sich hier auf wenige, hochdramatische Wochen. 1990 dagegen wirkt in der Erinnerung wie ein blinder Fleck. Das Gedächtnis, von den sich überschlagenden Ereignissen ebenso gefordert wie von unerfüllten Wünschen und nicht eingestandenen Kränkungen, fasst ein solches Jahr nur schwer.

Die Ausstellung »Das Jahr 1990 freilegen« basiert auf einem Buchprojekt der Leipziger Verleger_innen Anne König und Jan Wenzel. Verschiedene Aspekte des Jahres 1990 werden auf ihre Aktualität hin untersucht, Inhalte des Buches werden in den Ausstellungsraum übersetzt: Bilder und Stimmen setzen sich zu Knotenpunkten dieses Jahres zusammen. Die Besucher_innen werden eingeladen, damalige Ereignisse und ihre Auswirkungen auf die heutige Gesellschaft auf sich wirken zu lassen und mit den eigenen Erinnerungen zu überprüfen. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass irgendeines dieser Ereignisse wirklich abgeschlossen ist. Wer die Gegenwart lesen will, muss beim Jahr 1990 einsetzen.

Termine:

Samstag, 14. September 2019, 18-20 Uhr
Eröffnung der Ausstellung

Veranstaltungen im Rahmen von »Das Jahr 1990 freilegen oder: Aufführung eines Buches« in Zusammenarbeit mit der Fotoausstellung WANDEL UND ANNÄHERUNG im Ausstellungszentrum Pyramide Hellersdorf und mit dem QuartiersBüro Marzahn NordWest

Montag, 4. November 2019, 20 Uhr
Gespräch »Nie / Wieder Deutschland: Besichtigung flüchtig aufscheinender Zukünfte« mit Manuela Bojadžijev, Frigga Haug und Wolfgang Fritz Haug

Für das Buch und die Ausstellung von Anne König und Jan Wenzel »Das Jahr 1990 freilegen oder: Aufführung eines Buches« war das Buch »Perestroika Journal. Versuch, beim täglichen Verlieren des Bodens unter den Füßen neuen Grund zu gewinnen« von Wolfgang Fritz Haug ein wichtiger Bezugspunkt. Der 1990 erschienene Sammelband zeichnet nach, was um Haugs West-Berlin herum in der zerfallenden DDR im Zuge der sowjetischen Umbrüche geschah. Der marxistische Philosoph Haug schreibt hier mit, was in der damaligen Gegenwart aufschien oder hervorgebracht wurde: Die Neugier und der Moment mit all seinen Irrungen und Zufälligkeiten stehen hier im Vordergrund und weniger die abgeklärte Analyse. Gemeinsam mit der Soziologin Frigga Haug leitete er Zeitschrift und Verlag ›Das Argument‹. Die Professorin für Soziologie kann sich noch genau daran erinnern, wie im Jahr 1990 – ausgehend von den ›Runden Tischen‹ – zahlreiche DDR-sozialisierte Feminist_innen die Redaktionsräume stürmten und wilde Debatten innerhalb der zusammengefallenen Linken auslösten.
Die Politikwissenschaftlerin und Autorin Manuela Bojadžijev lehrt in Lüneburg »Globalisierte Kulturen« und ist Mitbegründerin der Gruppe ›Kanak Attak‹. Sie arbeitet zu Fragen von Migration und Rassismus als immanenter Spaltpilz eines sich neu aufbäumenden Deutschlands und Europas. Manuela Bojadžijev hat die aufkommende ›Wiedervereinigung‹ nicht als Festtag aller Deutschen erlebt.

Donnerstag, 14. November 2019, 19 Uhr
Kommentierte Filmschau »Material sichten« mit Madeleine Bernstorff

Filmvorführung ›Material‹ von Thomas Heise, D 2009, 166 Min.

Der Ostberliner Dokumentarfilmer Thomas Heise hat als Schüler von Heiner Müller den Zweifel zum Programm gemacht. Seine nahezu dreistündige Filmcollage aus dem ›Material‹ der nicht aufgehenden Reste seiner Sammelwut - Dokumente und Zustände - begleitet den Kollaps der DDR: »Man kann sich die Geschichte länglich denken, sie ist aber ein Haufen.« (Thomas Heise)
Aufnahmen der Versammelten am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, revoltierende Gefangene und deren Erzieher in einem Brandenburger Gefängnis, Szenen der Theaterarbeit von Fritz Marquardt am Berliner Ensemble und die Auseinandersetzung mit dem Stück »Germania Tod in Berlin«, der umringte Egon Krenz vor dem Zentralkomitee am Werderschen Markt, die turbulente Premiere von Heises Nachwende-Film »Stau, jetzt geht’s los« am 3. Oktober 1992 oder die Ruine der ehemaligen Volkskammer. Heise betrachtet und belauscht die Szenen von der Seitenlinie her lange und genau.
Die Westberliner Autorin und Film-Kuratorin Madeleine Bernstorff wird in das Werk von Thomas Heise einführen und unterstützt beim Sichten dieses umfassenden Materials.

Mittwoch, 27. November2019, 19 Uhr
Kommentierte Buchvorstellung »Das Jahr 1990 freilegen« mit Anne König & Jan Wenzel und Elske Rosenfeld

Anne König (Autorin, Künstlerin) und Jan Wenzel (Autor, Künstler) sind Mitbegründer_innen des Leipziger Verlags spector books und Kurator_innen des f/stop Festivals für Fotografie. Sie stellen ihr Buch über das Jahr 1990 vor. Jener Zeitraum, als die DDR zwar noch existierte, aber der Staatsapparat zusammenbrach und sich neue demokratische Strukturen abzeichneten. Mit dem Einigungsvertrag im Oktober des Jahres schienen jegliche alternativen Überlegungen plötzlich obsolet: »Vergleicht man die Jahre 1989 und 1990, fällt auf, dass sie in der kollektiven Erinnerung höchst unterschiedlich präsent sind. Jeder kann sich die Ereignisse des Herbstes ’89 ins Gedächtnis rufen, während das Jahr 1990, das in seinen Entwicklungslinien immer wieder abreißt, oft unfassbar bleibt, nicht erzählbar ist.« (Jan Wenzel)
Als Zwischen- und Übergangszeit nach der Wende des Herbstes 1989 in Ostdeutschland setzt sich das Jahr 1990 aus einer Folge abgerissener Entwicklungen zusammen und ragt weiterhin tief in die Gegenwart. Gemeinsam mit der Ostberliner Künstlerin und Kuratorin Elske Rosenfeld wird das Terrain der Möglichkeiten um 1990 noch einmal durchschritten, auch um den gegenwärtigen Murks besser zu verstehen.

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