28. November 1982–19. Januar 1983
Eröffnung:
28. November 1982
Arbeitsgruppe
Rainer Balcerowiak, Lothar Binger, Hans Michael Bock, Peter Buchmann, Udo Dittfurth, Christoph Fischer, Peter Urban Halle, Peter Haumann, Petra Hellemann, Susann Hellemann, Knut Hickethier, Peter Hielscher, Franz-Josef Hilbers, Gisela Kayser, Eberhard Knödler-Bunte, Rainer Krznar, Rolf Külz, Achim Langhans, Uta Lehnert, Ting-I Li, Lisa Lorenz, Nellie Mackenzie, Olav Münzberg, Michael Passenheim, Michaela Preuß, Hans D. Reichardt, Erika Schachinger, Martin Schwarz, Rainer Struck, Marie-Theres Suermann, Ingeborg Ullrich, Detlev Wittgen
In Zusammenarbeit mit Museumspädagogischer Dienst Berlin, Museum für Verkehr und Technik, Künstlerhaus Bethanien
Veranstaltungen:
Jeden Mittwoch von 18-20 Uhr: Ton-Dia-Schau
Jeden Freitag von 18-20 Uhr: Filme
Jeden Samstag von 18-20 Uh: S-Bahn-Revue und Ton-Dia-Schau
15.-19.12. Arbeitstagung “Industrialisierung und Kultur”
29.12. 20 Uhr: Verkehrs- und stadtpolitisches Streitgespräch mit Gerd Emig (FDP), Senatro Hassemer (CDU), Dr. Knut Hickethier (AG Berliner S-Bahn), Eberhard Knödler-Bunte (Redaktion Ästhetik und Kommunikation), Peter Lexen (AL), Jörg Mettke (Redaktion Der Spiegel), Dietmar Staffelt (SPD)
Aus der Pressemitteilung:
Die Berliner S-Bahn ist Medium und Leitfaden, an dem entlang Alltag und Kultur einer sich rapide industrialisierenden Metropole in die Erinnerung und in die Anschauung geholt werden soll. Mit der Entwicklung eines modernen und leistungsfähigen Verkehrssystems von Stadt-, Ring- und Vorortbahnen war eine Voraussetzung geschaffen für die Industrialisierung und die Verstädterung einer ganzen Region.
Für Millionen von Menschen war die S-Bahn (und ist es noch heute im anderen Teil der Stadt) das Verkehrsmittel, mit dem sie täglich die Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsplatz zurücklegen, mit dem sie auch größere Traglasten transportieren konnten und das ihnen die Naherholungsgebiete im Umkreis von Berlin erschloß.
Der zunehmende Ost-West-Konflikt, der nach der endlichen Niederschlagung des Nazi-Regimes einsetzte, die Teilung Deutschlands in zwei Staaten und die besondere Situation Berlins machte diese vielfältigen Funktionen der S-Bahn weitgehend zunichte. Während die Deutsche Reichsbahn immer weniger für Ausbau und Erhalt der im Westteil Berlins ihrer eigentlichen Aufgabe beraubten und dadurch defizitär werdenden S-Bahn investierte, betrieb gleichzeitig der Senat eine Politik der Nicht-Integration des S-Bahn- in das West-Berliner Verkehrssystem durch den Ausbau von parallelen Streckenführungen von BVG-Bussen und U-Bahn, bis hin zu Boykottaufrufen als Reaktion auf den Bau der Mauer 1961. Anti-Kommunismus verhinderte bis heute, daß vernünftige und für die Bevölkerung auch brauchbare Lösungen gefunden wurden, die dem Leben und der besonderen Geschichte dieser Stadt Rechnung tragen.
Inzwischen ist durch weitere Streckenstilllegungen und Fahrplanverdünnungen das Westnetz der S-Bahn als Nahverkehrssystem nahezu funktionslos geworden, und obwohl ihre Betriebssicherheit noch immer gewährleistet ist, werden mit Millionenaufwand die ehrgeizigen, nicht immer sinnvollen Ausbaupläne für die U-Bahn weiter verfolgt. Erst in jüngster Zeit hat der Senat Berlins zu erkennen gegeben, daß er über eine Integration der S-Bahn nachzudenken bereit ist. Was bisher von diesen Plänen an die Öffentlichkeit drang, läßt eine Abriß-Modernisierung vermuten, wie sie für Berlin typisch ist. Viele S-Bahnhöfe dürften abgerissen und durch Betonklötze ersetzt werden, der gesamte Wagenpark soll ausgetauscht werden. Von einer Magnetbahn ist da die Rede, von Investitionen in Milliardenhöhe, mit deren Hilfe Ende der 90er Jahre eine neue, stromlinienförmige Schnellbahn präsentiert werden soll. Es steht zu vermuten, daß die jahrzehnte lange Ausblendung der S-Bahn aus dem öffentlichen Bewußtsein kompensiert werden soll durch den Aufbau einer gänzlich neuen Schnellbahn, die die Gegenstände beseitigt, an denen sich historische Erinnerung und Stadterfahrung festgemacht hat, und die das nach wie vor intakte Netz im Ostteil der Stadt sowie im Umland ignoriert.
In dieser Situation hat eine Ausstellung über die Berliner S-Bahn die kritische Funktion, die historischen Bedeutungen wieder ins öffentliche Gedächtnis zurückzuholen, die sich einer glatten Modernisierung in den Weg stellen. Ganz ohne Nostalgie und ästhetisierende Betulichkeit, aber mit viel Gespür für die Bedeutung von historischen Orten und Gegenständen, die mit den Erfordernissen einer technischen Funktionalität durchaus zusammenkommen können.
In diesem Sinne ist die Ausstellung mehreres zugleich: ein Stück Stadtgeschichte Berlins, in die sich die S-Bahn eingegraben hat, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte eines industriellen Verkehrsmittels, an dessen kultureller Verarbeitung sich beispielhaft Verstädterungsprozesse während der Industrialisierung festmachen lassen, die Entkoppelung von Wohn- und Arbeitsplätzen, das Entstehen von Urbanität, die Mobilisierung des großstädtischen Lebens, die Veränderung von Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen; aber gleichzeitig auch Aufklärung über die technischen und verkehrsgeschichtlichen Probleme eines in der Entstehungszeit modernen und neuartigen Verkehrssystems, über dessen Auswirkungen auf Stadtplanung und Stadtentwicklung; Information über die Funktionsweise der S-Bahn, über ihre Betriebsstruktur und ihre betriebstechnischen Merkmale; Detailanalysen zur Architektur der Bahnhöfe und Betriebsbauten, zur Entwicklung eines industriellen Designs, die bis heute das Bild der S-Bahn prägen. Schließlich die Vergegenwärtigung der S-Bahn als ein spezifisches Lebens- und Produktionsmilieu, von den biologisch und ökologisch interessanten Grünzonen über die Vielzahl von Schrebergärten und Randbebauungen bis hin zu den vielfältigen gewerblichen Nutzungen auf dem Gebiet der S-Bahn.
In diesen vielfältigen Dimensionen und Bedeutungen wird die S-Bahn bis heute verarbeitet in ästhetischen Ausdrucksformen, sie hat einen festen Platz in Bildern und Grafiken, in Reiseberichten und Reportagen, in Fotografien und im Film, aber auch in Anekdoten und Alltagsgeschichten, die mit der S-Bahn zu tun haben. Und erst in dieser Vielfältigkeit kommt zum Bewußtsein, welche Bedeutungen diesem Medium S-Bahn historisch zugewachsen sind und welche Rolle sie noch heute spielen für ein großstädtisches Heimatbewußtsein.
Pressestimmen
Volksblatt Berlin, 12.12.1982 (Joachim Bröske)
“Die Ausstellung zur Berliner S-Bahn will diese Geschichte wieder ins Gedächtnis holen. Sie stellt nicht eine Funktion der S-Bahn vor, sondern die Vielfalt an Bedeutungen, die der S-Bahn im Laufe ihrer mehr als 100jährigen Geschichte zugewachsen sind.”
Frankfurter Rundschau, 30.12.1982 (Werner Rhode)
“Ausstellung und Katalog markieren die wesentlichen Stationen der Entwicklung, erläutern die einzelnen Komplexe, dokumentieren die unaufhaltsame Abwärtsfahrt. Unaufhaltsam? Nein, diesem Fatalismus geben die Ausstellungsmacher sich nicht hin. Sie versuchen, Weichen, Signale zu stellen: für die S-Bahn-Reaktivierung, für einen neuen, vernünftigen ÖPNV-Verbund, für eine schnelle, konkrete Planung nach den (Katalog-)Devisen ‘Die Zukunft kann schon morgen beginnen’ und „’Retten, was zu retten ist’. Unterstützt werden sie dabei von mitgliederstarken Bürgerinitiativen, nämlich von der „’Fahrgastinitiative Berlin’ und von der ‘Interessengemeinschaft Eisenbahn e. V.’.
Volksblatt Berlin (West), 12.12.82 (Joachim Bröske)
“Wäre die Berliner S-Bahn normales, innerstädtisches Nahverkehrsmittel, es bestünde sicherlich kein besonderer Anlaß, sich diesem in Form einer Ausstellung anzunehmen. Aber die Berliner S-Bahn ist mehr und weniger zugleich. Sie ist in ihren Funktionen ramponiert durch die Teilungsgeschichte Deutschlands, die sich oft genug an ihr selbst niedergeschlagen hat. Währungsreform und darauffolgender Streik der Reichsbahn 1949, Mauerbau und Boykott 1961, schließlich erneuter S-Bahn-Streik 1980 und anschließende umfangreiche Streckenstillegungen markieren die wichtigsten Nachkriegsstationen der S-Bahn.”
Unsere Zeit, 11.01.83 (Reinhold Schlitt)
“Die Zukunft der S-Bahn in Westberlin steht auf dem Spiel. Eine über zwanzigjährige Boykottpolitik des Westberliner Senats hat zu einer Schrumpfung der Fahrgastzahlen auf ganze 15 000 Fahrgäste pro Tag geführt. Die DDR-Reichsbahn, Betreiberin des S-Bahn-Verkehrs, mußte deswegen im September 1980 große Teile des S-Bahn-Betriebs einstellen.(…) Auch in der Westberliner Bevölkerung regt sich zusehends der Widerstand gegen die ‘Politik der Nichtintegration der S-Bahn . . .’, wie die Initiatoren einer S-Bahn-Ausstellung im Kreuzberger Künstlerhaus Bethanien den derzeitigen Zustand formulieren. Über 13 000 Unterschriften wurden in wenigen Wochen unter die Forderungen gesetzt, die S-Bahn in das öffentliche Nahverkehrsnetz zu integrieren und vor allen Dingen den S-Bahn-Boykott-Aufruf zurückzunehmen.”