Faktor Arbeit

Zur Geschichte und Zukunft von Arbeit

26. April–1. Juni 1997
Eröffnung: 25. April 1997

Ausstellung
Publikation

Diskussionsreihe

Ort(e):
NGBK, Oranienstraße 25
“Gipsdreieck” in Berlin-Mitte, Platz zwischen Auguststraße und Gipsstraße
Hallesches Tor in Berlin-Kreuzberg, Platz vor der AGB

Künstler_innen

Walter Ballhause, Joseph Beuys, Ulrike Grossarth, Torsten Haake-Brandt, Gerald Adam Hahn, Tobias Hauser, Raffael Rheinsberg, Pascale Wiedemann

Arbeitsgruppe

Jochen Becker, Michaela van den Driesch, Peter Funken, Helmut Höge, Bernd Kramer

Übernahme nach Dresden.

Aus der Publikation (Leonie Baumann):
‘Auf dem Arbeitsmarkt gibt es keine Anzeichen für eine Entspannung’. So oder so ähnlich beginnen die Nachrichtensprecher fast täglich die Überleitung zu den neuen Arbeitslosenstatistiken und -prognosen. In der ersten Zeit nach den Vollbeschäftigungszeiten des „Wirtschaftswunders“ wurde den ersten Arbeitslosen gerne individuell die Schuld an ihrem Schicksal zugeschoben. Heute, angesichts von fast fünf Millionen offiziell gemeldeter Arbeitslosen, hat diese Schuldzuschreibung ihre Glaubwürdigkeit vollends eingebüßt. Längst ist offensichtlich: Für die hochtechnologisierten industriellen Arbeitsprozesse werden immer weniger Menschen benötigt. Arbeitslosigkeit ist kein individuelles Problem mehr, sondern struktureller Bestandteil der Industrienationen. […] Die globale Vernetzung verursacht einen Umstrukturierungsprozeß, der ein weltweites Agieren der Unternehmen allein zu ihrem Vorteil möglich macht und bei dem die abhängig Beschäftigten, die Arbeitnehmer, die Arbeiter oder wie wir sie auch nennen wollen, das Nachsehen haben. Gewinne werden geschickt dort erzielt, wo wenig Steuern erhoben werden, die Ware Arbeitskraft billig zu haben ist und zusätzlich gilt: Bilanzen schreiben will gekonnt sein, damit der Fiskus möglichst wenig vom Gewinn-Kuchen abbekommt.
Die Steuern, die notwendig sind, um das öffentlich soziale Gefüge einer Gesellschaft wie der BRD aufrechtzuerhalten, werden zum überwiegenden Teil durch die Abgaben von Seiten der Arbeitnehmer erbracht. Mit ihrem Steueraufkommen finanzieren die unter anderen dem Straßenbau, die Bundeswehr und die Unternehmenssubventionen. Sie zahlen mit ihrer Rentenversicherung die Renten der aus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen. Sie finanzieren mit ihrem „Solidarzuschlag“ den „Aufschwung Ost“ und nicht zuletzt mit ihrer Arbeitslosenversicherung das Arbeitslosengeld und die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) jedweder Art. Finanzpolitisch kann ABM so nicht bis in alle Ewigkeit funktionieren, denn mathematisch rechnet es sich nicht, wenn aus dem schrumpfenden Finanzaufkommen, das eine immer geringer werdende Zahl von Erwerbstätigen aufbringt, eine immer größere Anzahl von Arbeitslosen befristet entlohnt werden soll. Alle Winkelzüge, in denen einerseits die Abgaben erhöht und andererseits die Leistungen für Arbeitslose oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen reduziert werden, kaschieren das Dilemma der Zeit.
Der ursprüngliche Ansatz der Arbeitsgruppe in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, die für die Ausstellung „Faktor Arbeit“ von der Idee bis zur Realisierung verantwortlich ist, war, die Facetten des ABM-Daseins und -Erlebens vorzustellen, da einige der Gruppe selber in sogenannten Qualifizierungsmaßnahmen und Beschäftigungsgesellschaften in Brandenburg, konkret in einer „Feststellungs- und Integrationsmaßnahme in Pritzwalk, involviert waren. Aus dieser Ursprungsidee ist mehr geworden. Die Schizophrenie von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die sich zwischen kurzfristiger subjektiver Absicherung und Verbesserung der Lebensqualität der Teilnehmenden und der objektiven Sinn- und Zwecklosigkeit der Vorhaben bewegen, die als Voraussetzung für die Bewilligung einer oder mehrerer ABM-Stellen belegt werden muß, ist offensichtlich. Die Auseinandersetzung und Konfrontation damit führt folgerichtig zu generellen, übergreifenden Fragestellungen zur Zukunft der Arbeit in den hoch entwickelten Technologiegesellschaften.

Pressestimmen

Junge Welt, 05.05.1997 (Christoph Tannert)
“Die Arbeitslosenzahlen erreichten im Februar einen neuen Nachkriegsrekord: 4,7 Millionen Arbeitssuchende waren in Deutschland offiziell ohne Job, in Wahrheit suchen wenigstens sechs Millionen Menschen einen Arbeitsplatz. In dieser sozial angespannten Situation melden sich Künstler zu Wort mit einer Ausstellung unter dem unspektakulären Titel ‘Faktor Arbeit’. […] Arbeit, Arbeitskrampf, Freizeit, Müßiggang und der Kampf gegen die Langeweile liegen nah beieinander [sic]. ‘Faktor Arbeit’ plädiert für Kopfbewegungen in alle Richtungen.”

taz, 29.04.1997 (Harry Nutt)
“Ausgangspunkt der Ausstellung war eine ‘Integrationsmaßnahme für Langzeitarbeitslose’ des brandenburgischen Arbeitsamts in Pritzwalk, das Peter Funken, Mitinitiator von ‘Faktor Arbeit’, mit anderen Dozenten leitete. […] Hunderte von bemalten Blättern sind an die Wand gepinnt, ein nicht zu Ende gemaltes Bild liegt noch auf dem Tisch.”

Neues Deutschland, 29.04.1997 (Andreas Quappe)
“In den 70er Jahren wäre eine derartige ‘Arbeits’-Ausstellung vielleicht sogar spannend geworden. Die spärlichen Exponate, die heute zusammengetragen werden konnten, wirken hingegen eher peinlich. Wenn Fotos von Treuhandführern gegenüber den Portraits Obdachloser platziert werden, ist dies schon an Eindimensionalität kaum zu überbieten.”