Radikale Passivität: Politiken des Fleisches

12. September–1. November 2020

Ausstellung
Veranstaltungsreihe

Ein Kooperationsprojekt der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) und der Gesellschaft für künstlerische Forschung in Deutschland (gkfd)

Ort(e):
nGbK, Oranienstraße 25, 10999 Berlin

Künstler_innen

Jimmy DeSana, Till Gathmann, Sidsel Meineche Hansen, Jeroen Jacobs, KAYA, Jutta Koether, Sophia Eisenhut/ Christian Kölbl, Andreas Langfeld, Deana Lawson, Lee Lozano, Richard Kern/ Lydia Lunch, N.O. Madski, Henrik Olesen, Ovartaci, Vika Prokopaviciute, Protektorama (cared for by J.P. Raether), Eran Schaerf, Oliver Husain/ Kerstin Schroedinger, Alina Szapocznikow, Paul Thek, Wu Tsang, Clemens von Wedemeyer, Marianne Wex, Andrea Winkler

Teilnehmer_innen

Beate Absalon, Martin Beck, Sophia Eisenhut, Cru Encarnação, Leonhard Fuest, Elena Vogman

Kurator_innen

Kathrin Busch, Ilse Lafer

Mitarbeit

Jonas von Lenthe, Carolin Schulz

Die Ausstellung widmet sich in drei aufeinander folgenden ›Szenen‹ neuen Formen von Sensibilität und Fleischlichkeit in den Künsten. Das thematische Spektrum reicht von Auseinandersetzungen mit Schmerz, Sucht und Erregung (1. Szene) über die Idee eines neuen digitalen Fleisches (2. Szene) bis hin zu Fragen nach der gesellschaftlichen Formierung einer nicht mehr subjektzentrierten Empfindsamkeit (3. Szene).

Ausgangspunkt für die Ausstellung ist Paul B. Preciados biopolitische These, die Machtform der heutigen Gesellschaft sei ›pharmakopornografisch‹: Die Weise, in der man gegenwärtig subjektiviert wird, verlaufe zum einen über Pharmazeutika – gemeint sind Medikamente, Hormone, Aufputschmittel, Tranquilizer und Drogen. Zum anderen funktioniere die heutige Machtform über Erregung, wobei nicht nur die Pornoindustrie gemeint ist, sondern auch andere gesellschaftliche Mechanismen, die der masturbatorischen Logik: ›Erregung – Frustration – Erregung‹ gehorchen. Adressat dieser Regulierungen ist das sensible Fleisch in seiner nervlichen Ausgesetztheit, Passibilität und Verwundbarkeit.

Die gezeigten künstlerischen Arbeiten exponieren die Zusammenhänge von Macht, Krankheit, Sex, exzessiver Empfindsamkeit und Kunst. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf das Unwillkürliche wie Hinfällige und hinterfragen Politiken der Affizierung. Neben Werken aus den 1960er und 1980er Jahren werden vor allem zeitgenössische Positionen gezeigt, die dasjenige thematisieren, was in Kunst und Leben nicht Gegenstand der Wahl und nicht im Möglichkeitsspielraum des Einzelnen vorgezeichnet ist. Schwäche, Altern, Erschöpfung oder Sterblichkeit, aber auch Geburt, Verletz- und Erregbarkeit sind Phänomene radikaler Passivität, die in ihrer künstlerischen Brechung als Kritik an einer vermeintlichen Regierbarkeit des fleischlichen Seins zu verstehen sind.

Szene 1 »Ästhetiken der Affizierung: Schmerz und Erregung«
ab 11. Sept. 2020

Mit: Jimmy DeSana, Sophia Eisenhut/ Christian Kölbl, Till Gathmann, Oliver Husain/ Kerstin Schroedinger, Jeroen Jacobs, KAYA, Richard Kern/ Lydia Lunch, Jutta Koether, Lee Lozano, N.O. Madski, Sidsel Meineche Hansen, Henrik Olesen, Vika Prokopaviciute, Eran Schaerf, Alina Szapocznikow, Paul Thek, Andrea Winkler

Freitag, 11. September 2020, 13:00-23:00
Eröffnungstag der 1. Szene im Ausstellungsraum

20:00 (de)
Veranstaltungsraum der nGbK, 1. OG
Vortrag »Cosmopharmacode(x): Zum Drogeneinsatz nach der Science Fiction« von Leonhard Fuest

In dem Vortrag sollen ein paar Anregungsmittel der Science Fiction gemischt werden, um das heutige und zukünftige Subjekt (Mensch/Cyborg) in seiner pharmakologischen Destination zu verorten. Der Cosmopharmacode(x) lässt sich in diesem Szenario als zentrale Chiffre einer ›Narconditio Transhumana‹ auffassen. Klingt ziemlich ›overloaded‹ (ist es auch) und verdient daher eine nüchterne Ironisierung, die nicht gänzlich auf eine winzige Ethik verzichten will.

21:00 (de/en)
Veranstaltungsraum der nGbK, 1. OG
Filmscreening »UNDER THE SKIN« (Jonathan Glazer) kommentiert von Marie-Luise Angerer

»Ihr Zuhause ist die Straße, die Nacht ihre Komplizin: In einem Lieferwagen fährt die mysteriöse Laura (Scarlett Johansson) allein durch Schottland – auf der Suche nach Beute. In grellen Clubs und dunklen Gassen findet sie ihre Opfer: einsame, gelangweilte Männer, die auf schnellen Sex hoffen und der überirdischen Schönheit nichtsahnend in die Falle gehen…« Was die Ankündigung des Alien-Science-Fiction-Films von Jonathan Glazer nicht verrät, ist, dass den Opfern das Fleisch aus dem Hautsack gesogen und in einen blutroten Energiestrom einspeist wird, und damit der Film auch eine Reflexion über die heutige Medienkultur enthält.

»UNDER THE SKIN«, Regie: Jonathan Glazer, (Großbritannien 2013), OmU, FSK 16, 103 min

Szene 2 »Digitale Fleischlichkeit: Mensch-Maschine-Sex«
ab 2. Okt. 2020

Mit: Jimmy DeSana, Oliver Husain/ Kerstin Schroedinger, Jeroen Jacobs, KAYA, Jutta Koether, Andreas Langfeld, Lee Lozano, Sidsel Meineche Hansen, Henrik Olesen, Vika Prokopaviciute, Protektorama (cared for by J.P. Raether), Eran Schaerf, Paul Thek, Clemens von Wedemeyer, Andrea Winkler

Freitag, 2. Oktober 2020, 12:00-23:00
Eröffnungstag der 2. Szene im Ausstellungsraum

16:00 (de)
Veranstaltungsraum der nGbK, 1. OG
Vortrag »Einbruch des Körpers – Das Abjekte in (post-)digitaler Kunst« von Martin Beck

In den letzten Jahren haben digitale Technologien unsere Körperlichkeit neu verschaltet und konfiguriert, indem sie zunehmend in deren Matrix eindringen und zugleich neue digitale Techno- und Bildkörper produzieren. Wie bereits 2016 von »Frieze« festgestellt, wird dabei eine Ästhetik des Abjekten, von Abfall und Ausstoß, die zentral für die Kunst der 1990er war, unter neuen Vorzeichen relevant. Der Vortrag verfolgt dieses spezielle 90er-Revival in verschiedenen Optionen einer Ästhetik des digital Abjekten, u.a. bei Ed Atkins und Jon Rafman. Das Konzept des Abjekten wirft dabei nicht nur die Frage nach dem Verhältnis von digitalem und analogem Fleisch auf, sondern verknüpft diese mit individuellen und kollektiven Subjektivierungsprozessen und politischen Optionen der Gegenwart.

17:00 (de)
Veranstaltungsraum der nGbK, 1. OG
Lecture Performance »Drei Milliarden Perverse oder das Begehren der Maschinen« mit Elena Vogman und Cru Encarnação

Unter dem Titel »Trois Milliardes de Pervers. La Grande Encyclopédie des Homosexualités« erschien im Jahr 1973 in Paris die Spezialausgabe der Zeitschrift Recherches, die an die psychiatrische Klinik von La Borde assoziiert war. Kollektiv signiert von Autor_innen wie Gilles Deleuze, Michel Foucault, Jean Genet, Félix Guattari u.a. präsentierte die Publikation eine komplexe Montage aus theoretischen Aussagen, Bildern, Interviews und Karikaturen. »Die Homosexuellen sprechen im Namen aller – im Namen der stillen Mehrheit – und stellen alle Formen von Begehrensproduktion in Frage«, hieß es im Vorwort. Die szenische Lesung basiert auf den anonymen Fragmenten und Bildern dieser Publikation, welche visuell und akustisch auf eine neue Ebene übertragen werden. Der politische und psychiatrische Kontext der Institutionellen Psychotherapie bildet neben dem Werk von Deleuze und Guattari – insbesondere ihrem Konzept der begehrenden Maschinen – den Ausgangspunkt der performativen Relektüre.

21:00 (de/en)
Veranstaltungsraum der nGbK, 1. OG
Filmscreening »eXistenZ« (David Cronenberg), kommentiert von Bettina Papenburg

Die Idee vom ›neuen Fleisch‹, die der kanadische Regisseur David Cronenberg in vielen seiner Filme aus den 1970er bis 1990er Jahren entwickelt, ist unlösbar verbunden mit Praktiken der Formierung, Deformierung und Re-Konfigurierung des menschlichen Körpers durch Unterhaltungstechnologien, Drogenkonsum und medizinische Eingriffe. Der Film »eXistenZ« thematisiert die mediale Konstruktion von Realität im Computerspiel und erprobt die Konsequenzen der Affizierung und Wahrnehmungsausweitung durch digitale Medien. Die medientechnisch induzierte Wahrnehmungserweiterung und Wahrnehmungsverwirrung inszeniert Cronenberg als eine Groteske des vernetzten Kollektivkörpers, der für die apparativ gesteuerte Sensibilisierung, Erregung und Passivierung verfügbar gemacht wird.

»eXistenZ«, Regie: David Cronenberg, (Kanada 1999), OmU, FSK 16, 97 min

Samstag, 10. Oktober 2020, 18:00-21:00
»Databody – Screenbody – aLifveForm [5.5.5.5]«

Autor: Protektorama (fed and cared for by J.P. Raether)
Format: Begegnung mit aLifveform Protektorama toxicae in kleinen und relationalen datengesteuerten Formationen.

Protektorama [5.0 - 5.4.X] kristallisierte sich 2011 als Subidentität und SelbstSchwester von J.P. Raether heraus. Sie ist das Urgefäß der Lebenslinie von Protektoramae, eine Herde von WorldWideWitches. Seitdem haben sie als Smartphone Sangoma und als Unholdenschar gearbeitet. Sie verzweigten sich 2014, um eine reisende Hexe [globalis] zu werden, und nochmals 2016, um in ein Rare Earth Occultist [toxicae] [5.5.5.X] entwickelt zu werden. Auf ihrem symbolischem Terrain bei »Radikale Passivität« werden sie auf Partikel als ihr Hexenzirkel treffen, mit einer kleinen Anzahl von konstruierten Körpern, Identitäten, Geräten, Daten und Bildschirmen, um unsere Relationen zu ihnen gemäß der Protokolle der Neuen Normalität neu zu kalibrieren.

Szene 3 »Politiken des Fleisches: Formierungen des Körpers«
ab 16. Okt. 2020

Mit: Jimmy DeSana, Jeroen Jacobs, KAYA, Richard Kern/ Lydia Lunch, Deana Lawson, Lee Lozano, Sidsel Meineche Hansen, Ovartaci, Protektorama (cared for by J.P. Raether), Eran Schaerf, Alina Szapocznikow, Wu Tsang, Clemens von Wedemeyer, Marianne Wex, Andrea Winkler

Freitag, 16. Oktober 2020, 12:00-23:00
Eröffnungstag der 3. Szene im Ausstellungsraum

17:00 (de)
Veranstaltungsraum der nGbK, 1. OG
Lecture Performance »Anorexie und Gottesstaatlichkeit. Materialien zu Katharina von Manresas ›Exerzitien‹« von Sophia Eisenhut

Der Komplex »Anorexie und Gottesstaatlichkeit. Materialien zu Katharina von Manresas ›Exerzitien‹« versteht sich als unabgeschlossene textliche Arbeit an einer Wortwerdung des Fleisches. Mittels einer Fiktionalisierung von Intertextualitäten öffnet sich die Suche nach einer weiblichen ›écriture‹ dem Pseudohistorischen als einem utopischen Raum. Die potenzielle Modernität eines jesuitischen Konzeptes von Sinnlichkeit wird dabei von (xeno-)feministischen Körperbezügen aktiviert. Die daraus entstehende Sensibilität ist nicht mehr subjektzentriert und wird vor dem ästhetischen Hintergrund der Gegenreformation nach ihrem kollektiven politischen Gehalt befragt.

18:00 (de)
Veranstaltungsraum der nGbK, 1. OG
Vortrag »Ich habe mich zum Fressen gern!« von Beate Absalon

»Küsse, Bisse, das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, kann schon das eine für das andre greifen« heißt es in Heinrich von Kleists »Penthesilea«. Symbolische, reale und phantasmatische Formen des Kannibalismus sind uns näher, als uns vielleicht lieb ist, scheinen sie doch grundlegend für die Gestaltung von Intersubjektivität zu sein. Der Vortrag fragt, wie sich in künstlerischen Auseinandersetzungen mit Anthropophagie eine Sonderform der Relation äußert: im Verschlingen des eigenen Körpers.

Ein Teil der Ausstellung wandert in die HGB-Galerie Leipzig.

Finanziert aus Joint Venture Mitteln der Senatsverwaltung für Kultur und Europa.

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