Migration

Im Jahr 1974 erließ die Westberliner Senatsverwaltung eine Zuzugssperre für die Ansiedlung von Migrant_innen aus Nicht-EG-Ländern in den Bezirken Tiergarten, Wedding und Kreuzberg, in denen der ausländische Bevölkerungsanteil zwölf Prozent und mehr betrug. Migrant_innen wurde eine Aufenthaltsgenehmigung nur noch dann erteilt, wenn sie eine Wohnung außerhalb dieser Bezirke nachweisen konnten. Trotz offizieller Berichte, die auf die Wirkungslosigkeit dieser fehlgeleiteten Wohnungspolitik hinwiesen, wurde die Zuzugssperre erst 1990 endgültig aufgehoben.1

Ein knappes Jahr nach Inkrafttreten der Berliner Zuzugssperre widmete sich die nGbK, damals noch in der Jebenstraße in Charlottenburg ansässig, erstmals der jüngsten Migrationsgeschichte2: So wurde im Januar 1975 die Einzelausstellung Gastarbeiter – Fremdarbeiter des seit 1973 in Berlin lebenden DAAD-Stipendiaten Vlassis Caniaris realisiert. Mit seinen begehbaren Rauminstallationen, die aus Altkleidern, Sperrmüll und vorgefundenen Materialien geschaffen wurden, deutete Caniaris fragmentierte Körper und Alltagsszenerien an, die an die prekären Arbeits-, Wohn-, und Lebensverhältnisse der Migrant_innen erinnern sollten.

Die vermeintliche Diskrepanz zwischen der stadtpolitischen Realität und den subjektiven Environments im Stil der Arte Povera wurde von einigen Rezipienten als Manko aufgefasst. Der Vorwurf lautete, Caniaris‘ Arbeiten mangele es an politischer Anteilnahme, wobei jedoch verkannt wurde, dass sein Wissen um Migration sich in Materialität und Ästhetik subtil miterzählte, ohne sich explizit als ‚politische Kunst’ behaupten zu müssen.

Ging es in Vlassis Caniaris‘ Environments um eine künstlerische Auseinandersetzung, wurden in den nachfolgenden Jahren Ausstellungen realisiert, die sich einer dokumentarischen oder aktivistischen Praxis verpflichteten. So rückte mit Homeless People (1988) erstmals die prekäre Lebenssituation von Geflüchteten und Asylsuchenden ins Zentrum. Fotografien und begleitende Interview-Ausschnitte dokumentierten in der Ausstellung Duldung (1997) die Wohn- und Lebensverhältnisse von Roma-Familien in Berliner Asylbewerberheimen und zeigten auf, wie ein provisorisches Leben zwischen Flucht, Warterei und Ankommen, zwischen Bewilligungsformalitäten und einer drohenden Abschiebung aussieht.

Migration ist immer an Aspekte und Phänomene von Mobilität, nationaler Grenzregime, Kontrolle und Deterritorialisierung geknüpft. Gleich mehrere Ausstellungen der nGbK, in denen künstlerische, politische und aktivistische Positionen ineinandergriffen, näherten sich diesen vielfältigen Facetten aus interdisziplinärer Perspektive: So verstand sich das Projekt significans (2000) als ein Archiv, Informations- und künstlerisches Interventionsbüro, das Identifizierungs- und Überwachungstechniken verhandelte, die dadurch „insbesondere für Asylbewerber/innen oder für Ausländer/innen ohne gültige Aufenthaltspapiere”3 nutzbar gemacht werden sollten. Die Ergebnisse wurden schließlich in Form eines Archivs ausgestellt, das vom Publikum ergänzt oder kommentiert werden konnte.4

Den politischen und existentiellen „Auswirkungen europäischer Migrationspolitik”5 widmete sich die Ausstellung MOV!ING ON (2005) und entwickelte dabei möglicher Antworten auf diskriminierende Praktiken in Gestalt von Strategien zu antirassistischem Handeln, die in einer begleitenden Publikation umfassend dokumentiert wurden. Nicht nur „staatliche Repressionsinstrumente“ und visuelle Diskurse wurden kritisch untersucht, sondern auch die „Autonomie der Migration“ sowie politische Kämpfe von Geflüchteten und Migrant_innen wurden thematisiert.
Den gewagten Versuch, scheinbar unvereinbare Phänomene in ein Verhältnis zu setzen, unternahm das interdisziplinäre Projekt Transient Spaces −The Tourist Syndrome (2010), das über zwei Jahre hinweg „Fragen zu Mobilität, Tourismus, Migration, neue Formen flexiblen Lebens und permanenten Unterwegsseins“6 verhandelte.

Die in der nGbK realisierten Projekte zu migrations- und asylpolitischen Themen zeigen, dass sich das Verhältnis von Politik, Aktivismus und Kunst nicht auf eine rein äußerliche Begegnung beschränkt. Vielmehr stehen die Sphären im Wechselverhältnis zueinander, indem sie Handlungsfelder und neue Aufmerksamkeitsökonomien für kritische Fragen schaffen und marginalisierte Stimmen zu Wort kommen lassen.

Es ist ein Verdienst der nGbK, dass sie migrationspolitischen Debatten immer wieder Raum gegeben hat. Ein weißer Fleck ist nach wie vor die „Frage nach der fehlenden Diversität im Berliner Kulturbetrieb“.7

Eylem Sengezer, 2015, überarbeitet 2019


  1. Vgl. Sybille Münch: Integration durch Wohnungspolitik? Zum Umgang mit ethnischer Segregation im europäischen Vergleich. München 2010. Die „teils offen bekundete Weigerung vieler Vermieter, an ‚Gastarbeiter‘ zu vermieten, charakterisierte die [damalige] Wohnungssituation. Auch die Stadtpolitik hatte erheblichen Einfluss auf eine Verschlechterung der migrantischen Wohnverhältnisse.“ Dass „kaum organisierte Kritik an der Zuzugssperre“ formuliert wurde, ergab sich auch aus der Tatsache, dass „sich die meisten Migrantenverbände erst in den 1980er Jahren konstituierten.“ Ebd., S. 341. 

  2. Vgl. Katrin Sello: Kunstkalender, in: Die Zeit, 24.01.1975, http://www.zeit.de/1975/05/kunstkalender 

  3. Pressemitteilung significans, NGBK 2000. 

  4. Vgl. Pauleit, Winfried: >significans< Archiv, Informations- und Interventionsbüro, in: Ästhetik & Kommunikation, Heft 111, 31. Jg., 2000, S. 49. 

  5. https://archiv.ngbk.de/en/projekte/moving-on/, Zugang vom 28.02.2020. 

  6. Pressemitteilung Transient Spaces, NGBK 2010. 

  7. Vgl. Bahareh Sharifi: 1 Schritt vor, 2 Schritte zurück. Die Logik des deutschen, weißen Kulturbetriebs, in: Migazin, 20.05.2015. http://www.migazin.de/2015/05/20/schritt-schritte-die-logik-kulturbetriebs/